Prekäre Noblesse
Schön, dass es mit der sogenannten Neoromantik endlich vorbei ist. Jetzt kann man Kerstin Kartschers Zeichnungen und Installationen, die sie seit Mitte der 90er sehr konsequent eigenständig entwickelt, wieder trendbereinigt anschauen. In den letzten Jahren ist unmerklich einiges passiert, auch wenn das im Detail nicht leicht zu benennen ist. Die offen collagierten Kompositionen zeigen sich verwaister und zugleich komplexer und verwickeln vielschichtig Interieurmomente mit Architekturfragmente in diversen Blickachsen. Es gibt kaum einen einheitlichen Bildraum. Das wäre wahrnehmungspsychologisch eine Unterforderung. Das Innen und das Außen verschränken sich simultan changierend in einer Vielzahl von perspektivischen Fluchtpunkten. Personen haben den Bildraum weitgehend verlassen. Schriftzüge sind nun auch weniger zu sehen. Eine Art von atmosphärischer Konsistenz hat eindeutig zugenommen. Es ist durchweg eine sehr schöne Tristesse, die keine mobilen Momente wie Verkehrsmittel oder Lebewesen braucht.
Wenn früher eher eine bedrohlich zerbrochene Nachkriegsatmosphäre vorherrschte, ist es jetzt mehr ein entkernter italienischer Neorealismus, der den Betrachter wie flurbereinigt verstummen lässt. Heimelig ist hier nach wie vor gar nichts. Ich kenne zwar selbst keine, aber erhabene Friedhöfe, auf denen nur glücklich Verstorbene ruhen, haben bestimmt ein ähnliches Flair. Auffällig ist auch eine verstärkte subtile, eher malerische Nutzung der hellen Bildzonen. Dort sind jetzt vermehrt zarteste Schattierungen (oder minimal weiß gehöhte Stellen auf ungrundierter Leinwand) für den fünften Blick appliziert. Diese Bildelemente wirken wie in den Bildträger eingedampft, oder steigen unmerklich als Bildnebel von dort auf, was in echt natürlich noch schöner wäre.
Gunter Reski / Texte zur Kunst Online, 2010